Haftung der Tochtergesellschaft für Wettbewerbsverstöße der Muttergesellschaft
Schadensersatzklage gegen Tochtergesellschaft?
Zwischen 1997 und 1999 erwarb die klagende Gesellschaft zwei Lastkraftwagen von der Beklagten, einer spanischen Tochtergesellschaft, deren Muttergesellschaft eine deutsche Aktiengesellschaft ist. Im Juli 2016 deckte die EU-Kommission ein Kartell zwischen mehreren Lkw-Herstellern auf, darunter auch die Muttergesellschaft. Die Hersteller hatten zwischen 1997 und 2011 Preisabsprachen im Europäischen Wirtschaftsraum getroffen.
Die Klägerin erhob daraufhin Klage. Die erste Instanz in Spanien wies die Klage ab. Hiergegen legte die Klägerin Berufung ein. Das Berufungsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit der Frage vorgelegt, ob und unter welchen Voraussetzungen im Anschluss an einen Beschluss der Kommission, mit dem wettbewerbswidrige Verhaltensweisen einer Muttergesellschaft festgestellt worden sind, eine Schadensersatzklage gegen deren Tochtergesellschaft erhoben werden kann.
Entscheidung
Der EuGH legte fest, dass Schadensersatzklagen für die wirksame Durchsetzung der EU-Wettbewerbsregeln wichtig seien. Dabei sei der verwendete EU-rechtliche Begriff des „Unternehmens“ funktional zu betrachten und ein Konzern mit seinen kartellrelevanten Teilen als "wirtschaftliche Einheit“ zu verstehen.
Nach ständiger Rechtsprechung kann jeder von Unternehmen, die an einem nach EU-Vorschriften verbotenen Kartell oder Verhalten beteiligt waren, Ersatz des entstandenen Schadens verlangen. Auch wenn solche Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten erhoben werden, richtet sich die Bestimmung der zum Ersatz des verursachten Schadens verpflichteten Einheit unmittelbar nach dem Unionsrecht.
Hierbei ist der Begriff „Unternehmen“, der von der Kommission verwendet wird, dem „Unternehmen“, gegen das im Zusammenhang mit Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten geklagt wird, gleichzusetzen. Der Begriff „Unternehmen“ umfasst jede Einheit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Sie bezeichnet eine wirtschaftliche Einheit, selbst wenn diese rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen besteht. Wenn erwiesen ist, dass eine zu einer solchen wirtschaftlichen Einheit gehörende Gesellschaft gegen EU-Vorschriften verstoßen hat und dass das „Unternehmen“, zu dem sie gehört, die Zuwiderhandlung gegen die EU-Vorschrift begangen hat, führen die Begriffe „Unternehmen“ und „wirtschaftliche Einheit“ von Rechts wegen zu einer gesamtschuldnerischen Haftung der Einheiten, die zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung die wirtschaftliche Einheit bilden.
Ist das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen EU-Recht seitens einer Muttergesellschaft festgestellt worden, steht es dem Geschädigten der Zuwiderhandlung frei, anstelle der Muttergesellschaft eine ihrer Tochtergesellschaften zivilrechtlich haftbar zu machen, vorausgesetzt, dass der Geschädigte nachweist, dass zum einen im Hinblick auf die wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen diesen beiden rechtlichen Einheiten und zum anderen im Hinblick auf das Bestehen eines konkreten Zusammenhangs zwischen der wirtschaftlichen Tätigkeit dieser Tochtergesellschaft und dem Gegenstand der Zuwiderhandlung, für die die Muttergesellschaft haftbar gemacht wurde, diese Tochtergesellschaft mit ihrer Muttergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit bildete.
Im Rahmen einer solchen Schadensersatzklage gegen die Tochtergesellschaft muss diese jedoch vor dem betreffenden nationalen Gericht über alle Mittel verfügen, die für die sachdienliche Ausübung ihrer Verteidigungsrechte erforderlich sind, insbesondere um ihre Zugehörigkeit zu demselben Unternehmen wie ihre Muttergesellschaft bestreiten zu können. Stützt sich eine Schadensersatzklage wie im vorliegenden Fall auf die Feststellung eines EU-Verstoßes durch die Kommission in einem an die Muttergesellschaft der beklagten Tochtergesellschaft gerichteten Beschluss, kann die Tochtergesellschaft das Vorliegen der von der Kommission festgestellten Zuwiderhandlung vor dem nationalen Gericht nicht bestreiten. Gemäß EU-Verordnung dürfen die nationalen Gerichte keine Entscheidungen erlassen, die dem Beschluss der Kommission zuwiderlaufen.
Hat die Kommission dagegen ein rechtswidriges Verhalten der Muttergesellschaft nicht in einem Beschluss festgestellt, ist die Tochtergesellschaft naturgemäß berechtigt, nicht nur ihre Zugehörigkeit zu demselben „Unternehmen“ wie die Muttergesellschaft zu bestreiten, sondern auch das Vorliegen der Zuwiderhandlung, das Letztgenannter zur Last gelegt wird. Insoweit ist die Möglichkeit des nationalen Gerichts, eine etwaige Haftung der Tochtergesellschaft für die verursachten Schäden festzustellen, nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Kommission keinen Beschluss erlassen hat oder weil mit dem Beschluss, mit dem sie die Zuwiderhandlung festgestellt hat, dieser Gesellschaft keine Verwaltungssanktion auferlegt wurde. Daher stehen die EU-Vorschriften einer nationalen Regelung entgegen, die die Möglichkeit vorsieht, die Haftung für das Verhalten einer Gesellschaft einer anderen Gesellschaft nur dann zuzurechnen, wenn die zweite Gesellschaft die erste kontrolliert.
Konsequenz
Der EuGH hat die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme wegen eines unionsrechtlichen Kartellverstoßes definiert. Liegt ein unionsrechtlicher Wettbewerbs- oder Kartellrechtsverstoß vor, kann der Geschädigte gegen jede Gesellschaft innerhalb eines in wirtschaftlicher Einheit agierenden Konzerns vorgehen, wenn ein entsprechender unionsrechtlicher Verstoß von der EU-Kommission festgestellt wurde. Hierdurch erlangt der Geschädigte ein Wahlrecht und kann sich aussuchen, welche Gesellschaft die liquideste ist, und von jener den Schadensersatz verlangen.
Für Unternehmen bedeutet dies, dass ein unionsrechtlicher Wettbewerbs- und Kartellverstoß Auswirkungen auf jede Gesellschaft innerhalb des Konzerns haben kann und keine Haftungsbeschränkung auf den tatsächlichen „Schädiger“ gemäß nationalen Vorschriften möglich ist.