Ausnutzung der Vorteile der Istversteuerung ist nicht missbräuchlich

Unzutreffende Umsetzung der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie bei der Istversteuerung im Umsatzsteuergesetz

Im Gegensatz zur Sollversteuerung entsteht die Umsatzsteuer bei der Istversteuerung nicht mit der Ausführung der Leistung, sondern erst mit Vereinnahmung des Entgelts. Insoweit bestehen keine Abweichungen zwischen Umsatzsteuergesetz (UStG) und Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL). Anders sieht es beim Vorsteuerabzug aus. Das UStG lässt den Vorsteuerabzug zu, wenn die Leistung erbracht wurde und eine ordnungsgemäße Rechnung hierzu vorliegt. Ob der leistende Unternehmer der Soll- oder der Istversteuerung unterliegt, ist bisher unerheblich. Die MwStSystRL lässt dagegen den Vorsteuerabzug aus Leistungen von Unternehmen, die der Istversteuerung unterliegen, erst zu, wenn der Kunde die Zahlung leistet. Hierdurch wird erreicht, dass die Besteuerung des Umsatzes und der Vorsteuerabzug des Kunden zeitgleich erfolgen. Die hiervon abweichende Regelung des UStG führt nun dazu, dass der Vorsteuerabzug möglich ist, ohne dass der leistende Unternehmer den Umsatz versteuert hat. Nutzen Unternehmer:innen diesen Timelag bewusst aus, so sieht die deutsche Finanzverwaltung dies als missbräuchlich an. Doch ist dem tatsächlich so?

Fall: Kläger nutzt die Istversteuerung zu seinem Vorteil

Dem Kläger wurde vom Finanzamt die Istversteuerung genehmigt. Im Rahmen einer Außenprüfung fiel auf, dass der Kläger als Geschäftsführer diverser Firmen (Leistungsempfänger) tätig war, denen er in erheblichem Umfang Rechnungen mit gesondertem Ausweis der Umsatzsteuer erteilt hatte. Die Rechnungen wurden über mehrere Jahre nicht bezahlt. Folge: Den Leistungsempfängern stand der sofortige Vorsteuerabzug zu, ohne dass der Kläger hierfür Umsatzsteuer abgeführt hatte. Die Finanzverwaltung sah hierin eine missbräuchliche Gestaltung und widerrief die Genehmigung zur Istversteuerung, womit der Kläger nicht einverstanden war.

Bundesfinanzhof: Keine missbräuchliche Gestaltung, sondern unzutreffende Umsetzung der MwStSystRL

Der Bundesfinanzhof verweist auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2022, in dem dieser festgestellt hat, dass die Regelung des Vorsteuerabzugs für Leistungen von Istversteuerern im UStG der MwstSystRL widerspricht. Denn wie oben dargestellt, gibt es keinen Timelag zwischen der Besteuerung des Umsatzes beim Istversteuerer und dem Vorsteuerabzug der Kunden gemäß der MwStSystRL. Der Bundesfinanzhof kommt daher zum Ergebnis, dass die „Gefährdung des Steueraufkommens“ nicht auf einem Fehlverhalten des Klägers, sondern – wenn überhaupt – auf der unzutreffenden Umsetzung des Unionsrechts im UStG beruht. Die Genehmigung kann daher nicht widerrufen werden, mögliche Steuerausfälle sind hinzunehmen.

Konsequenzen

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil allein die Besteuerung der Umsätze des Klägers betraf. Ob den Leistungsempfängern tatsächlich ein Vorsteuerabzug zustand, da es sich gegebenenfalls um Scheinrechnungen handelte, ist im Besteuerungsverfahren der Leistungsempfänger zu klären.

Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn die unterlassene Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben allein zulasten des Fiskus geht. Dies ist für den Kläger positiv, gegebenenfalls jedoch nicht für Sie. Denn allen Unternehmen gehen die bisherigen Liquiditätsvorteile der Istversteuerung verloren, wenn der Gesetzgeber aufgrund des Urteils nun den Vorsteuerabzug gemäß der MwStSystRL umsetzen sollte. Auch die Rechnungsstellung sowie deren Prüfung dürfte komplexer werden. Denn Istversteuerer müssten dann, wie in der MwStSystRL vorgesehen, in ihren Rechnungen auf die Istversteuerung hinweisen. Die Leistungsempfänger müssten hinsichtlich des Zeitpunkts des Vorsteuerabzugs differenzieren, ob die Eingangsrechnung von einem Ist- oder Sollversteuerer ausgestellt wurde. Wir werden Sie über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden halten.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 12.7.2023 – XI R 5/21

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