Steuerfreie Ausfuhr statt innergemeinschaftlicher Lieferung – Geht das?

Fall: Kunde täuscht den Lieferanten hinsichtlich des Bestimmungsorts

Die Klägerin mit Sitz in Polen lieferte Äpfel an ihren Kunden (K), eine Gesellschaft in Großbritannien, die für Mehrwertsteuerzwecke in Lettland registriert war. Laut den Transportdokumenten, über die die Klägerin verfügte, sollten die Äpfel nach Litauen geliefert werden. Der Transport wurde von K organisiert. Die Klägerin meldete die Lieferungen als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen an. Allerdings stellten die polnischen Steuerbehörden fest, dass K die Äpfel direkt von Polen nach Weißrussland ausgeführt hatte. Die lettischen Behörden bestätigten, dass K einen innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen der Klägerin in Lettland sowie Exporte in Drittländer angemeldet hatte. Die polnischen Steuerbehörden hielten K zwar für einen Betrüger, konnten aber nicht feststellen, dass es in der vorliegenden Lieferkette zu einer Steuerhinterziehung gekommen war. Die polnischen Steuerbehörden erkannten die deklarierten innergemeinschaftlichen Lieferungen daher nicht an, behandelten diese als steuerpflichtige Inlandslieferungen und forderten die Umsatzsteuer von der Klägerin nach. Zusätzlich sanktionierten sie diese mit einem 30%igen Zuschlag auf die Nachzahlung. Die Klägerin forderte dagegen, die Lieferungen als steuerfreie Ausfuhr zu behandeln.

EuGH: Erfüllung der materiellen Voraussetzungen ist entscheidend

Laut EuGH ist eine Ausfuhr steuerbefreit bei Erfüllung der folgenden drei Voraussetzungen:
1.    Das Recht, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, muss auf den Erwerber übertragen worden sein.
2.    Der Lieferant muss nachweisen, dass der Gegenstand ins Drittland befördert oder versendet wurde.
3.    Der Gegenstand hat aufgrund dieses Versands bzw. dieser Beförderung das Hoheitsgebiet der EU physisch verlassen.
Hierbei ist allein zu prüfen, ob diese Voraussetzungen objektiv erfüllt sind, unabhängig vom Zweck des Umsatzes oder von den Absichten der Beteiligten.
Laut EuGH sind alle drei Voraussetzungen erfüllt. Hinsichtlich des Nachweises der Ausfuhr reicht es, dass der Nachweis von den polnischen Steuerbehörden und nicht von der Klägerin erlangt wurde. Es ist daher völlig unerheblich, dass sich die Klägerin und K auf eine innergemeinschaftliche Lieferung geeinigt hatten und die von der Klägerin vorgelegten Dokumente nicht korrekt waren.
Da die materiellen Voraussetzungen für eine steuerfreie Ausfuhr erfüllt sind, ist die Steuerbefreiung für die Ausfuhr zu gewähren, auch wenn die Klägerin nicht alle formalen Vorgaben erfüllt hat.

Konsequenzen

Die Finanzverwaltung kann allein wegen formeller Mängel die Steuerbefreiung für Ausfuhren nicht verhindern, sofern die materiellen Voraussetzungen hierfür unstrittig erfüllt sind. Von diesem Grundsatz gibt es nur zwei Ausnahmen, in denen der Verstoß gegen formelle Anforderungen den Verlust der Steuerbefreiung nach sich zieht. Zum einen, wenn der Verstoß gegen die formellen Vorgaben den sicheren Nachweis des Vorliegens der materiellen Vorgaben verhindert. Zum anderen, wenn der Lieferant sich an einer Steuerhinterziehung beteiligt bzw. von dieser hätte wissen müssen. Beides war im Fall nicht gegeben. Zu beachten ist hierbei, dass laut EuGH keine Gefahr eines Steuerbetrugs besteht, die eine Besteuerung rechtfertigen würde, wenn die Voraussetzungen für eine steuerfreie Ausfuhr vorliegen.
Das Urteil ist äußerst hilfreich für die Abwehrberatung. Dennoch sollten Sie sich nicht hierauf verlassen und sich sorgfältig darum kümmern, dass auch die formalen Vorgaben erfüllt sind. So hat die Klägerin nur deshalb die Steuerbefreiung erhalten, weil die polnische Finanzverwaltung festgestellt hat, dass die Ware ausgeführt wurde. Hätte sie lediglich geklärt, dass die Ware nicht in Litauen angekommen ist, wäre die Steuerbefreiung verloren gewesen.

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 1.8.2025 – C-602/24

Gert Klöttschen

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