Ist Reisezeit Arbeitszeit?
Was ist passiert?
Die Klägerin ist ein Speditionsunternehmen, das auf die Überführung von neuen und gebrauchten Nutzfahrzeugen spezialisiert ist. Die dort beschäftigten Arbeitnehmer:innen fahren mit der Bahn oder mit Taxen zu dem jeweiligen Abholort des Fahrzeugs, übernehmen es dort und fahren das Fahrzeug dann zum vereinbarten Zielort. Von diesem Zielort aus reisen sie zurück zu ihrem Wohnort oder zu dem nächsten Abholort.
Das zuständige Gewerbeaufsichtsamt ermahnte die Klägerin, die zulässigen Höchstarbeitszeiten einzuhalten, da es die Auffassung vertritt, dass Bahnreisen, die im Zusammenhang mit der Überführung von Nutzfahrzeugen getätigt werden, Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes darstellen. Dagegen wehrte sich die Klägerin im Zuge der Klage vor dem VG Lüneburg.
VG Lüneburg: Bahnfahrten sind Arbeitszeit
Das VG Lüneburg entschied nun, dass die getätigten Bahnfahrten tatsächlich Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind. Zur Begründung führt das Gericht aus, dass mit den Bahnfahrten zwar nicht zwingend eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung einhergehe. Dies sei aber auch nicht entscheidend. Maßgeblich sei vielmehr, ob Arbeitnehmende den Arbeitgebern zur Verfügung stehen und arbeitsvertragliche Tätigkeiten ausüben. Folglich zählen die Bahnfahrten nach Auffassung des Gerichts auch als Arbeitszeit, da sie Teil der vertraglichen Leistungserbringung sind und die Freizeit der eingesetzten Arbeitnehmer:innen beschränken. Das Urteil ist noch nichts rechtskräftig.
BAG: Beanspruchungstheorie
Das VG Lüneburg weicht mit dieser Entscheidung von der sogenannten Beanspruchungstheorie des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ab. Nach dieser Theorie ist Reisezeit dann Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes, wenn Arbeitnehmer:innen während dieser Zeit in einem Umfang beansprucht werden, der eine Einordnung als Arbeitszeit erfordert. Arbeitnehmer:innen, die für eine Dienstreise einen Pkw nutzen und im Straßenverkehr lenken, werden durch das Führen des Pkw im Straßenverkehr mit nicht unerheblichen physischen und psychischen Belastungen konfrontiert, sodass es sich bei dieser Zeit um Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes handelt. Anders sieht es die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung für den Fall, dass Arbeitnehmer:innen für Dienstreisen öffentliche Verkehrsmittel nutzen. In diesem Fall wird den Arbeitnehmer:innen die Zeit der Dienstreise grundsätzlich zu ihrer freien Verfügung gewährt. Unstreitig gehört hingegen auch die Zeit der Bahnfahrt zur Arbeitszeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne, wenn währenddessen die geschuldete Arbeitsleistung erbracht wird (z.B. durch Aktenlesen oder Telefonieren).
Was heißt das nun für Arbeitgeber?
Für Arbeitgeber bringt dieses verwaltungsgerichtliche Urteil nun die Rechtsunsicherheit zurück, die das BAG mit seiner Beanspruchungstheorie hinter sich lassen wollte. Es bleibt abzuwarten, ob und inwiefern das BAG durch die Entscheidung des VG Lüneburg seine bisher ständige Rechtsprechung überdenken wird.
Deutlich zu betonen ist, dass sich sowohl die Entscheidung des VG als auch die Beanspruchungstheorie des BAG lediglich auf die Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes bezieht. In der betrieblichen Praxis existiert der Begriff „Arbeitszeit“ u.a. auch im vergütungsrechtlichen Sinne. Arbeit im vergütungsrechtlichen Sinne ist jede von Arbeitgebern im Gegenseitigkeitsverhältnis verlangte Tätigkeit und jede sonstige von Arbeitgebern verlangte Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit und der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. Dienstreisen stellen damit grundsätzlich Arbeit im vergütungsrechtlichen Sinne dar. Allerdings kann arbeits- und tarifvertraglich eine niedrigere Vergütung für Reisezeiten im Rahmen einer Dienstreise vereinbart werden, da Arbeitnehmer:innen in dieser Zeit nicht ihre eigentlich geschuldete Leistung erbringen.