Stellung eines Antrags nach § 32c EStG nur bis zur Unanfechtbarkeit des Einkommensteuerbescheides
Kernaussage
Ein erstmaliger Antrag auf Tarifermäßigung nach § 32c EStG kann nur bis zur Unanfechtbarkeit des Einkommensteuerbescheides für das letzte Jahr des Betrachtungszeitraums gestellt werden.
Sachverhalt
Die Kläger sind verheiratet. Sie wurden im Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte wie bereits in den vorangegangenen Jahren Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft. Diese Einkünfte ermittelte er nach § 4 Abs. 1 EStG mit einem vom 1. Juli bis 30. Juni laufenden abweichenden Wirtschaftsjahr.
Der Einkommensteuerbescheid für 2019 vom 25.06.2021 erging erklärungsgemäß. In dem Bescheid wurde Einkommensteuer i.H.v. 0 € festgesetzt. Am 10.08.2021 ging beim FA die bereits von den Klägern am 4. Mai 2021 unterzeichnete Anlage 32c ein, in welcher sie die Tarifermäßigung nach § 32c EStG beantragten. Der Anlage war eine Berechnung über einen Steuerermäßigungsbetrag i. H. v. 5.500 EUR beigefügt. Das FA lehnte die Änderung des Einkommensteuerbescheides für 2019 ab, da der Einkommensteuerbescheid bereits bestandskräftig sei und nicht mehr geändert werden könne. Er sei insbesondere nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen.
Gegen den Ablehnungsbescheid legten die Kläger Einspruch mit der Begründung ein, der Einkommensteuerbescheid sei nicht wirksam bekannt gegeben worden, da in den Erläuterungen kein Hinweis enthalten sei, dass bisher kein Antrag auf Tarifglättung nach § 32c EStG gestellt worden sei. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
Entscheidung
Die Klage hat keinen Erfolg.Der angegriffene Bescheid über die Ablehnung des Antrags auf Tarifermäßigung nach § 32c EStG ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.
Der Beklagte hat die Änderung des Einkommensteuerbescheides zur Berücksichtigung der Tarifermäßigung nach § 32c EStG zu Recht abgelehnt, denn der Einkommensteuerbescheid kann verfahrensrechtlich nicht mehr geändert werden. Er ist nämlich formell (§ 122 AO) und materiell (§ 124 AO) rechtskräftig.
Der Einkommensteuerbescheid ist materiell rechtskräftig. Er ist trotz fehlendem Hinweis auf die nicht in Anspruch genommene Tarifermäßigung nach § 32c EStG wirksam.
Der Bescheid ist nicht nichtig. Gem. § 124 Abs. 3 AO ist ein nichtiger Verwaltungsakt unwirksam. Ein Verwaltungsakt ist gem. § 125 Abs. 1 AO nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Vorliegend sind keine Gründe ersichtlich, die für eine Nichtigkeit des Einkommensteuerbescheides 2019 sprechen. Insbesondere ergibt sich die Nichtigkeit nicht aus einem fehlenden Hinweis in den Erläuterungen, dass bisher kein Antrag auf Tarifglättung nach § 32c EStG gestellt worden sei.
Der Bescheid ist auch formell rechtskräftig. Der Bescheid ist bestandskräftig und kann nicht geändert werden. Den Klägern war keine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist zu gewähren.
Die Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides kann nicht durchbrochen werden. Bei dem Antrag auf Tarifermäßigung nach § 32c Abs. 1 Satz 1 EStG handelt es sich um ein unbefristetes Wahlrecht, das grundsätzlich bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung ausgeübt werden kann. Allerdings müssen die Voraussetzungen für die Änderung des betreffenden Steuerbescheides vorliegen. Insoweit ergibt sich eine zeitliche Begrenzung der Wahlrechtsausübung aus dem allgemeinen verfahrensrechtlichen Institut der Bestandskraft. Könnten antragsgebundene Vergünstigungen des EStG ohne Weiteres nach Bestandskraft der Steuerfestsetzung geltend gemacht werden, liefe dies auf eine Aushöhlung der Vorschriften der AO über die Korrektur von Steuerbescheiden hinaus.
Vorliegend ist keine allgemeine gesetzliche Berichtigungs- oder Änderungsnorm einschlägig, die erfolgreich zu einer Änderung des Einkommensteuerbescheides zur Berücksichtigung der Tarifermäßigung nach § 32c EStG führen kann.
Eine Änderung des Einkommensteuerbescheides nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO kommt nicht in Betracht, da der Bescheid nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 1 Satz 1 AO stand.
Eine Änderung des Einkommensteuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist ebenfalls nicht einschlägig, da den Klägern eine rechtzeitige Stellung des Antrags möglich war.
Nach § 173 Abs. 1 Nr.2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen und Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Dabei steht nach ständiger Rechtsprechung des BFH die erstmalige Ausübung eines nicht fristgebundenen steuerlichen Wahlrechts nach Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht entgegen. Der nach Eintritt der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides gestellte Antrag auf Tarifbegünstigung nach § 32c EStG ist nach Auffassung des FG als Verfahrenshandlung keine nachträglich bekannt gewordene Tatsache. Dies wäre der der Steuervergünstigung zugrundeliegende Sachverhalt, der zu einer Änderung des Einkommensteuerbescheides führen könnte. Dies ist im vorliegenden Fall die Tatsache, dass der Kläger in mindestens zwei Jahren des Betrachtungszeitraums 2016 bis 2019 Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft erzielt hat. Aber selbst wenn der Antrag auf die Tarifermäßigung als neue Tatsache zu werten wäre, führte dies nicht zu einer Änderung des Einkommensteuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Diese nachträglich bekannt gewordene Tatsache würde zu einer niedrigeren Steuer führen. Eine Änderung des Bescheides wäre nur möglich, wenn den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der Tatsachen oder Beweismittel treffen würde. Das FG geht hier jedoch davon aus, dass die nicht rechtzeitige Stellung des Antrags auf ein grobes Verschulden der Kläger bzw. ihres steuerlichen Vertreters zurückzuführen ist. Grobes Verschulden setzt Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn ein Steuerpflichtiger die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt. Die Kläger haben keine Gründe vorgetragen, weshalb sie den Antrag auf Tarifermäßigung nicht bereits vor Eintritt der Bestandskraft gestellt haben. Insoweit obliegt ihnen die Feststellungslast dafür, dass sie nicht grob schuldhaft gehandelt haben. Tragen sie keine Gründe vor, kann das Gericht lediglich die aus den Akten ersichtlichen Umstände würdigen. Hier vermag das FG angesichts der gesetzlichen Regelung und des hierzu ergangenen BMF-Schreibens vom 18.09.2020 (BStBl I 2020, 952) keine Gründe zu erkennen, die dagegensprechen, dass der steuerliche Vertreter des Klägers durch die erst nach Bestandskraft des Steuerbescheides erfolgte Stellung des Antrags auf Tarifermäßigung die ihm obliegende und zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat.
Der Einkommensteuerbescheid kann auch nicht unter Anwendung von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden. Danach ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Unter Ereignis ist jede Begebenheit zu verstehen, die den Sachverhalt oder einen Teil des Sachverhaltes ausfüllt, der den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht. Ein Antrag, der selbst Merkmal des gesetzlichen Tatbestands ist und insofern unmittelbar rechtsgestaltend einwirkt, ist ein Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Kein Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist hingegen ein erstmalig, aber nachträglich ausgeübtes oder geändertes Wahlrecht, das aus verfahrensrechtlichen Gründen Voraussetzung für eine von mehreren steuerlichen Folgen für einen bestimmten Tatbestand ist.
Das Ereignis muss zudem steuerlich zurückwirken. Rückwirkende Ereignisse sind nur solche, die den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt verändern, obwohl sie erst im Nachhinein eingetreten sind; ein Besteuerungstatbestand also zunächst verwirklicht worden ist. Aufgrund steuergesetzlicher Anordnung sollen sie in die Vergangenheit zurückwirken, weil ein Bedürfnis besteht, eine schon endgültig getroffene steuerliche Regelung an die Sachverhaltsänderung anzupassen. Ob ein Ereignis zurückwirkt, beurteilt sich nach dem jeweils anzuwendenden Steuergesetz.
Vorliegend ist der Antrag auf Tarifermäßigung kein rückwirkendes Ereignis im Sinne von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Bei dem Antrag handelt es sich nach Ansicht des FG um eine Verfahrensmaßnahme, die zu treffen in den Händen des Steuerpflichtigen liegt. Es handelt sich nur um die Möglichkeit zur Ausübung eines Wahlrechts. Zwar ist der Antrag insofern Teil des Tatbestandsmerkmals der Tarifermäßigung, als ohne ihn eine solche nicht gewährt wird. Er gehört aber nicht zum materiell-rechtlichen Tatbestand der Tarifermäßigung nach § 32c Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 EStG. Dazu gehört lediglich, dass der Steuerpflichtige in mindestens zwei Jahren eines Betrachtungszeitraums (hier 2017 bis 2019) Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft erzielt hat. Das Antragserfordernis gibt dem Steuerpflichtigen lediglich ein Wahlrecht, die Tarifermäßigung zu begehren oder nicht.
Da die Voraussetzungen für eine Ausübung des Wahlrechts zugunsten der Tarifermäßigung nach § 32c EStG bereits vor Eintritt der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides vorliegen, besteht kein Bedürfnis, den erst nach Eintritt der Bestandskraft gestellten Antrag zurückwirken zu lassen. Bei den laufend veranlagten Steuern wie der Einkommensteuer sind die aufgrund des Eintritts neuer Ereignisse materiell-rechtlich erforderlichen steuerlichen Anpassungen regelmäßig nicht rückwirkend, sondern in dem Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem sich der maßgebende Sachverhalt ändert. Dies trifft auch auf den vorliegend verwirklichten Sachverhalt einer begehrten Tarifermäßigung nach § 32c EStG zu. Anders als bei nachträglich neu von außen eintretenden Umständen handelt es sich bei dem Antrag um eine Maßnahme, die der Steuerpflichtige selbst in der Hand hatte und bis zur Bestandskraft des Steuerbescheides hätte treffen können. Angesichts der vom Gesetzgeber grundsätzlich vorgesehenen Bestandskraft von Steuerbescheiden ist es vorliegend nicht erforderlich, dem Steuerpflichtigen die Änderung des Einkommensteuerbescheides zur Berücksichtigung einer Tarifermäßigung nach § 32c EStG auch nach Eintritt der Bestandskraft des Steuerbescheides zu ermöglichen.
Auch § 32c EStG selbst ermächtigt nicht zur Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheides zugunsten der erstmaligen Berücksichtigung der Tarifermäßigung. Entgegen der Rechtsansicht der Kläger enthält § 32c EStG keine spezielle Regelung zur Durchbrechung der Bestandskraft von Steuerbescheiden zum Zweck der erstmaligen Berücksichtigung der Tarifermäßigung.
Zwar hat der Gesetzgeber in § 32c Abs. 6 EStG eine Rechtsgrundlage für die Korrektur von Einkommensteuerbescheiden geschaffen, denen bereits eine Tarifermäßigung gem. § 32c Abs. 1 EStG zugrunde liegt. Diese Änderungsvorschrift betrifft jedoch nur Fälle bestandskräftiger Steuerbescheide, in denen die Tarifermäßigung bereits gewährt wurde. Diese Änderungsvorschrift soll trotz tatsächlicher Änderung der Voraussetzungen für die Berechnung der Tarifermäßigung dafür sorgen, dass die gewährte Tarifermäßigung nicht in rechtswidriger Höhe bestandskräftig wird, sondern entsprechend angepasst werden kann.
Anders verhält es sich bei der erstmaligen Berücksichtigung eines Antrags auf Tarifermäßigung. Dabei geht es nicht um die Berichtigung eines rechtswidrigen Steuerbescheides, sondern um die antragsmäßige Berücksichtigung einer gesetzlich normierten Beihilfe. Die Norm des § 32c EStG enthält keine Berichtigungs- oder Änderungsvorschrift zwecks der erstmaligen Berücksichtigung der Tarifermäßigung. Dies lässt sich weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck als auch dem Willen des Gesetzgebers entnehmen. Der Gesetzgeber hat die Norm bewusst so ausgestaltet, dass die Tarifermäßigung von einem Antrag des Steuerpflichtigen abhängig ist. Dabei hat er keine Regelung insoweit getroffen, dass der Antrag jederzeit und auch nach Bestandskraft des betreffenden Einkommensteuerbescheides gestellt werden könnte. Dies dürfte der Gesetzgeber angesichts der bereits im Gesetz enthaltenen Regelungen der formellen und materiellen Bestandskraft des Verwaltungsaktes und der Berichtigungs- und Änderungsvorschriften für nicht nötig gehalten haben, da sie dem Steuerpflichtigen ausreichend Zeit lassen, einen Antrag auf Tarifermäßigung nach § 32c EStG auch nach Ergehen des Bescheides bis zu dessen Bestandskraft noch nachzuholen.
Eine Änderung des Einkommensteuerbescheides und die Gewährung der Tarifermäßigung kommt auch nicht aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO in Betracht. Die Entscheidung über eine abweichende Festsetzung nach § 163 AO ist nach ständiger Rechtsprechung Gegenstand eines besonderen Verwaltungsverfahrens. Es ist nicht ersichtlich, dass die Kläger im Einspruchs- oder im Klageverfahren einen ausdrücklichen Antrag auf eine derartige Billigkeitsmaßnahme gestellt haben. Dahinstehen bleiben kann, ob das FA im Einspruchsbescheid eine (erstmalige) Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme getroffen oder sich nur im Rahmen eines obiter dictum geäußert hat. Es sind jedenfalls insbesondere mit Hinweis auf die zuvor getätigten Ausführungen keine Gründe ersichtlich, die für eine Änderung des Steuerbescheides aus Billigkeitsgründen sprechen.
Hinweis
Auch dem BMF-Schreiben zur Tarifermäßigung bei Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft nach § 32c EStG vom 18.09.2020 lässt sich nichts Anderes entnehmen.
Zwar ist dazu im BMF-Schreiben unter Textziffer 17 im zweiten Satz die Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung im Billigkeitswege benannt. Im Normalfall kann jedoch nach Bestandskraft des maßgeblichen Einkommensteuerbescheides keine Tarifermäßigung nach § 32c EStG mehr gewährt werden. Dass vorliegend ein von dem Regelfall abweichender Ausnahmefall vorliegt, ist nicht erkennbar. Hierzu haben die Kläger auch nichts vorgetragen.