Anwendung der Pauschalregelung auf landwirtschaftliche Erzeuger in Großbritannien

Kernaussage

In einer aktuellen Entscheidung hat sich der EuGH zur Anwendung der Umsatzsteuerpauschalierung in Großbritannien und zur Auslegung der Artikel 296 – 299 MwStSystRL geäußert.

Sachverhalt

Die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens ist eine aus Mitgliedern einer Familie bestehende Personengesellschaft, die in Nordirland (Vereinigtes Königreich) eine landwirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Sie hält die von einer verbundenen Gesellschaft, der Shield Livestock Limited, gekauften Rinder und mästet sie, bevor sie diese an Anglo Beef Processors, eine einen Schlachthof betreibende Gesellschaft, verkauft.

Auf Empfehlung dieser Gesellschaft beantragte die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens ihre Aufnahme in die Pauschalregelung. Diesem Antrag wurde am 01.05.2004 stattgegeben. Die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens war somit berechtigt, den Verkaufspreis der Rinder um einen Pauschalsatz von 4 % zu erhöhen; diese Erhöhung eröffnete ihren Kunden das Recht auf Vorsteuerabzug. In ihrem Aufnahmeantrag gab sie die Schätzung ab, dass ihr Umsatz im ersten Jahr nach ihrer Aufnahme in die Regelung 700 000 GBP (etwa 795 760 €) betragen werde. In dem am 30.06.2003 endenden Wirtschaftsjahr wurde ein Umsatz von 633 718 GBP (etwa 720 410 €) erzielt. Am 27.06.2012 trafen Beamte der Steuerverwaltung mit dem Wirtschaftsprüfer der Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens zusammen, um zu ermitteln, ob diese weiterhin an der Pauschalregelung teilnehmen kann. Während dieser Besprechung wurden mehrere Finanzaufstellungen, insbesondere die Gewinn- und Verlustrechnungen und die Bilanzen der Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens, sowie eine Tabelle geprüft, in der die Beträge, die sie unter Anwendung des Pauschalsatzes von 4 % erhalten hatte, denjenigen Beträgen gegenübergestellt wurden, die sie als Vorsteuer hätte abziehen können, wenn sie unter die normale Mehrwertsteuerregelung gefallen wäre. Die Beamten der Steuerverwaltung stellten dabei fest, dass die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens in den Wirtschaftsjahren 2004/2005 bis 2011/2012 aus ihrer Zugehörigkeit zur Pauschalregelung einen finanziellen Vorteil in Höhe von 374 884,23 GBP (etwa 426 170 €) erlangt hatte.

Mit Entscheidung vom 15.10.2012 hob die Steuerverwaltung die der Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens erteilte Bescheinigung über die Anwendung der Pauschalregelung, aufgrund des gezogenen Vorsteuervorteils auf. Die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens beantragte die Überprüfung dieser Entscheidung. Diese wurde daraufhin von der Steuerverwaltung bestätigt. Mit Urteil vom 08.10.2014 wies das erstinstanzliches Gericht die von der Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens erhobene Klage ab. Diese legte daraufhin beim Oberverwaltungsgericht ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein. Nach den Feststellungen dieses Gerichts sind zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens zwei Fragen in Bezug auf die Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie (MwStSystRL) streitig. Die erste Frage besteht darin, ob in Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL abschließend geregelt ist, wann ein landwirtschaftlicher Erzeuger von der Regelung ausgenommen werden kann. Die zweite Frage, die nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens streitig ist, ist die nach der Auslegung des Begriffs „Gruppen landwirtschaftlicher Erzeuger“ im Sinne von Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL. Unter diesen Umständen hat das Oberverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Entscheidung

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL dahin auszulegen ist, dass er abschließend regelt, wann ein Mitgliedstaat einen landwirtschaftlichen Erzeuger von der Pauschalregelung ausnehmen kann, oder ob dies auch auf Art. 299 dieser Richtlinie, den Grundsatz der steuerlichen Neutralität oder andere Gründe gestützt werden kann.

Vorab ist festzustellen, dass die Steuerverwaltung im Ausgangsverfahren die der Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens erteilte Bescheinigung über die Anwendung der Pauschalregelung auf einer individuellen Basis aufgehoben hat, da die Einnahmen aus der Anwendung des Pauschalausgleichsatzes erheblich über der Vorsteuer lagen, die sie hätte abziehen können, wenn sie unter die normale Mehrwertsteuerregelung gefallen wäre. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Pauschalregelung eine abweichende Regelung ist, die eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt und daher nur insoweit angewandt werden darf, als dies zur Erreichung ihres Ziels erforderlich ist (z.B. Urteile v. 15.07.2004 C-321/02, Harbs, UR 2004, S. 543; und v. 12.10.2016 C-340/15, Nigl, UR 2016, S. 873). Eines der beiden Ziele dieser Regelung betrifft die Notwendigkeit, die Verwaltung für die betreffenden Landwirte zu vereinfachen. Dieses Ziel muss mit dem Ziel eines Ausgleichs der Mehrwertsteuer-Vorbelastung für die Landwirte beim Bezug von Gegenständen, die für ihre Tätigkeiten verwendet werden, in Einklang gebracht werden.

Die erste Frage ist im Licht dieser Gesichtspunkte zu beantworten. Insoweit ist festzustellen, dass Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL nur die Möglichkeit nennt, von der Pauschalregelung bestimmte Gruppen landwirtschaftlicher Erzeuger sowie diejenigen Erzeuger auszunehmen, bei denen die Anwendung der normalen Mehrwertsteuerregelung oder der vereinfachten Bestimmungen des Art. 281 keine verwaltungstechnischen Schwierigkeiten mit sich bringt. Weder die Ziele der genannten Pauschalregelung noch der Kontext, in den sich Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL einfügt, enthalten jedoch die Annahme, dass der Gesetzgeber andere Gründe für einen Ausschluss zulassen wollte. Zwar besteht eines der Ziele der Pauschalregelung darin, es den hierunter fallenden Landwirten zu ermöglichen, die Mehrwertsteuerkosten, die sie aufgrund ihrer Tätigkeit getragen haben, auszugleichen. Dem Risiko der Überkompensation trägt jedoch Art. 299 der MwStSystRL im Hinblick auf die Pauschallandwirte insgesamt Rechnung. Zu diesem Zweck wird den Mitgliedstaaten mit dieser Vorschrift die Festlegung von Pauschalausgleich-Prozentsätzen untersagt, die dazu führen würden, dass die Pauschallandwirte insgesamt Erstattungen erhielten, die über die Mehrwertsteuer-Vorbelastung hinausgingen.

Darüber hinaus sehen die Art. 297 bis 299 der MwStSystRL vor, dass die Festlegung dieser Prozentsätze durch jeden Mitgliedstaat anhand der allein für die Pauschallandwirte geltenden makroökonomischen Daten der letzten drei Jahre global erfolgt. Daher kann Art. 299 der Richtlinie nicht den Erlass einer Entscheidung rechtfertigen, mit der ein Pauschallandwirt auf individueller Basis angesichts der in Anwendung dieser Prozentsätze erhaltenen Erstattungen von der Pauschalregelung ausgeschlossen wird.

Schließlich nennt das vorlegende Gericht zwar die Möglichkeit, eine Bescheinigung über die Anwendung der Pauschalregelung mit der Begründung aufzuheben, dass diese Regelung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer beeinträchtigen würde. Wie der Generalanwalt in Nr. 26 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist indessen festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber dieser Regelung bewusst eine gewisse Verallgemeinerung zugrunde gelegt hat und dabei von diesem Grundsatz abgewichen ist ? was zulässig ist, da die steuerliche Neutralität in der Bedeutung, die dem Begriff in der Ausgangsrechtssache zukommt, keinen eigenständigen Rechtsgrundsatz darstellt, sondern eines der Ziele der MwStSystRL ist, das insbesondere durch deren Art. 167 ff. konkretisiert wird, in denen der Grundsatz des Rechts auf Vorsteuerabzug verankert ist. Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Pauschalregelung grundsätzlich keine völlige Neutralität der Mehrwertsteuer gewährleisten kann, da sie gerade dieses Ziel mit demjenigen einer Vereinfachung der auf die Pauschallandwirte anwendbaren Vorschriften in Einklang bringen soll.

Unter diesen Umständen kann es nicht als Verstoß gegen das Unionsrecht angesehen werden, dass ein diese Regelung in Anspruch nehmender landwirtschaftlicher Erzeuger ? wie im vorliegenden Fall ?Mehrwertsteuerausgleichszahlungen erhält, die über dem Vorsteuerbetrag liegen, den er hätte in Abzug bringen können, wenn er dieser Steuer nach der normalen Regelung oder dem vereinfachten Besteuerungsverfahren unterläge. Somit kann der Grundsatz der steuerlichen Neutralität eine Maßnahme zum Ausschluss von der Pauschalregelung, wie die Aufhebung einer Bescheinigung über die Anwendung dieser Regelung, nicht rechtfertigen.

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL dahin auszulegen ist, dass landwirtschaftliche Erzeuger, bei denen festgestellt wird, dass sie als Teilnehmer an der Pauschalregelung erheblich mehr erstattet bekommen, als sie im Fall der Anwendung der normalen oder der vereinfachten Mehrwertsteuerregelung erstattet bekämen, eine Gruppe landwirtschaftlicher Erzeuger im Sinne dieser Vorschrift darstellen können.

Insoweit nennt Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL die Möglichkeiten zum Ausschluss landwirtschaftlicher Erzeuger von der Pauschalregelung und stellt klar, dass ein solcher Ausschluss insbesondere „Gruppen landwirtschaftlicher Erzeuger“ betreffen kann, ohne jedoch diesen Begriff zu definieren. Zwar verweist dieser Begriff auf die von den betreffenden landwirtschaftlichen Erzeugern, die eine oder mehrere gemeinsame Merkmale aufweisen müssen, damit sie eine Gruppe bilden, ausgeübte Tätigkeit. Gleichwohl müssen die Gruppen landwirtschaftlicher Erzeuger im Sinne von Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit auf der Grundlage objektiver, eindeutiger und genauer Kriterien vom nationalen Gesetzgeber oder gegebenenfalls von einer hierzu vom nationalen Gesetzgeber ermächtigten Behörde der Exekutive niedergelegt werden. Außerdem müssen diese Kriterien, wie der Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, vorab festgelegt werden, in dem Sinne, dass die Gruppe, die von der Regelung ausgenommen ist, im Voraus und abstrakt definiert werden muss, damit ein Landwirt vor der Entscheidung über eine mögliche Teilnahme an der Regelung in der Lage ist, zu beurteilen, ob er der ausgeschlossenen Gruppe angehört und auch künftig angehören wird. Somit muss ein landwirtschaftlicher Erzeuger in der Lage sein, vorab eine individuelle Prüfung seiner Situation durchzuführen, um zu ermitteln, ob er in Anbetracht der von der Gesetzgebung festgelegten Kriterien einer von der Pauschalregelung ausgeschlossenen Gruppe von Erzeugern angehört. Umgekehrt kann eine Gruppe landwirtschaftlicher Erzeuger im Sinne von Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL nicht unter Bezugnahme auf ein Kriterium definiert werden, das es den Betroffenen nicht ermöglicht, eine solche individuelle Prüfung vorzunehmen, da anderenfalls gegen die Erfordernisse der Klarheit und Sicherheit der Rechtslage verstoßen würde.

Im vorliegenden Fall trifft genau dies auf ein Kriterium für den Ausschluss von der Pauschalregelung zu, das auf der Wendung „erheblich mehr erstattet“ beruht. Nach alledem ist Art. 296 Abs. 2 MwStSystRL dahin auszulegen, dass landwirtschaftliche Erzeuger, bei denen festgestellt wird, dass sie als Teilnehmer an der Pauschalregelung erheblich mehr erstattet bekommen, als sie im Fall der Anwendung der normalen oder der vereinfachten Mehrwertsteuerregelung erstattet bekämen, keine Gruppe landwirtschaftlicher Erzeuger im Sinne dieser Vorschrift darstellen können.

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